Drei Jahrzehnte seit der „Wende“: Bemühungen um die Wiedergeburt echter Genossenschaften im Baltikum und in seiner Nachbarschaft

(Title in English: THREE DECADES SINCES THE CHANGES IN EUROPE’S EAST: Efforts to carry the re-birth of genuine cooperatives forward, in the Baltics and in its neighborhood.)

Übersicht


MEIN WEG ZUM BALTISCHEN GENOSSENSCHAFSWESEN

Seit der Frühzeit der „Wende im Osten“ bemühe ich mich um  Aktionspartner für das Wiedererwecken von Verhaltensweisen und Strukturen des bürgerlichen Assoziationswesens in Wirtschaft und Gesellschaft, insbesondere des bürgerlichen Genossenschaftswesens,  im Baltikum. Meinen Bezug zu dieser (selbstgewählten) Aufgabe habe ich in einer umfangreichen Ausarbeitung (Titel: „Genossenschaftswesen im Baltikum – Gestern, heute, morgen“) vorgestellt, die ich Ihnen gleichzeitig übermittle.

Bis zur kulturvernichtenden Zäsur des „Zweiten Weltkrieges“ hätte niemand ernsthaft in Frage gestellt, dass Deutschland, Österreich, die Schweiz und die baltischen Länder zum gleichen Kulturkreis gehören. Das zeigt sich prägnant beim Vergleich der (früheren) genossenschaftlichen Regelwerke für Genossenschaften in den baltischen Staaten mit denjenigen in Westeuropa, vor allem denen in Deutschland. Die Systeme, (die heutigen) hier wie (die vormals praktizierten) dort, waren (bzw. sind) nicht nur einander sehr ähnlich, sie waren (und sind es immer noch) sogar weitgehend deckungsgleich.

Das liegt nicht etwa daran, dass in den baltischen Regionen im Westen Gewachsenes einst im Osten adoptiert wurde, sondern vielmehr an der parallelen geschichtlichen Entwicklung der Bürgerlichkeit im Westen und im Osten. Man sollte sich dabei immer vor Augen halten, dass das Baltikum bis zum Ende des Ersten Weltkrieges ins Russische Reich integriert war, wo es, wie im Westen Europas, ebenfalls ein selbstbewußtes und gut organisiertes Bürgertum gab. Eine der wertvollsten Hinterlassenschaften aus der kurzen Amtszeit der Kerenski-Regierung ist das russische Genossenschaftsgesetz von 1917, das zwar in im Machtbereich der Sowjets nicht wirksam werden konnte, das aber von jedem der in dieser Zeit entstandenen baltischen Staaten (= Estland, Lettland und Litauen – bis 1940) ohne Abstriche als nationales Genossenschaftsrecht angewandt wurde.

Die baltische genossenschaftliche Praxis der Zwischenkriegszeit zeigt (belegt durch von mir zitierte Quellen) die enge Verwandtschaft  der damaligen baltischen mit  den bis heute geltenden westlichen, vor allem den bis heute geltenden deutschen genossenschaftlichen Prinzipien.

(Daraus kann aber auch abgeleitet werden, dass das russische Genossenschaftsgesetz von 1917 dem – damaligen, aber damit auch dem heutigen – deutschen inhaltlich sehr nahe war.)

STIFTUNG LIVLÄNDISCHE GEMEINNÜTZIGE

Ich errichtete (2011) als dauerhaften Träger meiner Arbeit die (rechtsfähige) „Stiftung Livländische Gemeinnützige“, dotierte sie allein und führe sie seither als Geschäftsführender Vorstandsvorsitzender. (Ich habe die Stiftung inzwischen – notariell – zu meinem Alleinerben eingesetzt, wodurch ihr meine gesamte materielle Hinterlassenschaft – steuerfrei – zufallen wird. Diese dürfte – vorsichtig geschätzt – das gegenwärtige Vermögen der Stiftung,  € 100.000, etwa um das Fünffache übersteigen. Das würde die Funktionsfähigkeit der Stiftung überlange Zeit sichern.
Außerdem ist es mir Anfang vorigen Jahres gelungen, sie in eine Verbrauchsstiftung umzuwandeln.

Die Stiftung ist eine Verbindung mit der „Deutschbaltischen Studienstiftung“ eingegangen, einer von mehreren deutschbaltischen Organisationen.

Zwei Organpersonen aus dieser Verbindung wurden inzwischen zu weiteren Vorstandsmitgliedern bestellt.

KONTAKTSUCHE IN DEUTSCHLAND UND IM IM BALTIKUM

Die ersten, zu denen ich Kontakt aufnahm, waren die deutschen Genossenschaftsverbände, allen voran der „Deutsche Genossenschafts- und Raiffeisenverband – DGRV“ und der  „Bundesverband der Volks- und Raiffeisenbanken – BVR“.

(Mit beiden bestanden bereits vorher jahrelange Verbindungen, sowohl aus meinen beiden Langzeit-Einsätzen als Genossenschafts-Berater in Kolumbien, als auch aus meiner Tätigkeit als Entwicklungshilfe-Referent an der deutschen Botschaft in Lima.
Ich war damals bei den Verbänden nicht zuletzt deshalb willkommen, weil ich ihnen Zugang zu Fördermitteln des „Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – BMZ“, meiner „Heimatbehörde“, beschafft hatte.
Nach der „Wende“ im Osten aktivierte ich diese Kontakte für meine (anfänglich berufsbegleitende) ehrenamtliche Arbeit im Baltikum.

Ich fand – allerdings nur bis zum Beitritt der baltischen Staaten in die EU – Akzeptanz.Deutsche Genossenschaften waren nach der Wende und vor der Aufnahme der baltischen Staaten in die EU dort mit Förderprojekten engagiert, weil es (deutsche) Staats-Fördermittel gab.

Diese endeten mit der Erweiterung der EU nach Osten und damit auch das Interesse der Verbände. Die eigentlich an vorderer Stelle für den genossenschaftlichen Wiederaufbau Berufenen schieden somit als Unterstützer aus.

Baltikum

Estland

Nach ermutigenden Vorkontakten über die estnische Botschaft in Berlin – kam ich (am Rande der „Grünen Woche“) vor einigen Jahren mit dem (damaligen) Leiter der Abteilung Internationales des estnischen Ministeriums für ländliche Angelegenheiten (in Anwesenheit eines Vertreters der estnischen Botschaft) ins Gespräch.

Dieser Beamte – mit dem deutschen Genossenschaftswesen durchaus vertraut und gut Deutsch sprechend – sicherte mir zu, mich mit geeigneten Regierungsstellen in Verbindung zu bringen und den Kontakt zu einer mit der Förderung des Genossenschaftswesens beauftragten Lehrkraft an der Universität für Lebenswissenschaften (früher: Agrar-Uni), Tartu, herzustellen.

Das schien ein Durchbruch zu werden.

Doch die Verbindung zu dem Ministeriums-Bediensteten brach bald ab, weil die zur Zeit des Gesprächs amtierende estnische Regierung durch eine nachfolgende unter Beteiligung der rechts-extremen Partei EKRE ersetzt worden war. Das Ministerium für ländliche Angelegenheiten war dieser Partei zugefallen.

Mein Kontaktmann dort verlor dadurch Funktion und Anstellung.

Während meines Estland-Aufenthaltes zu Beginn der Corona-Krise erfuhr ich, dass diese Person in das Ministerium zurückgekehrt sei, allerdings als Berater des Ministers.

Wir trafen uns erneut und besprachen Modalitäten der Fortsetzung des Begonnenen.Mein Verbindungsmann schlug ein Treffen mit seinem Minister (zu arrangieren.

Ich ging auf diesen Vorschlag unter der Bedingung ein, dass das Gespräch ein neutrales, für die  baltischen Staaten insgesamt aber äußerst wichtiges Thema fokussieren solle, nämlich die zeitgemäße Reform des Genossenschaftsrechts.

Dies wurde akzeptiert und beim  Ministertreffen ausführlich diskutiert.

Der Minister beauftragte schließlich den Leiter seiner Rechtsabteilung mit Kontaktanbahnungenzu anderen befassten Ressorts im Sinne meiner Vorschläge.

Bald nach meiner Rückkehr nach Deutschland erfuhr ich vom Kollaps auch dieser Regierung.

Mein Kontaktmann verlor – wiederum, diesmal wohl endgültig – Funktion und Anstellung, was er mir selbst mitteilte.

Er riet mir dabei, ich solle mich zur Fortsetzung des Begonnenen an den neuen Minister (unter einer nun wirtschaftsliberalen Parteien-Koalition) wenden und dabei von ihm benannte weitere wichtige Kontaktpersonen (im gleichen Ministerium) mit einbinden.

Dies unternahm ich unverzüglich.

Irgendeine Reaktion ist aber – bis heute – ausgeblieben. Schließlich brach auch dieser Vermittler die Verbindung zu mir (durch Nichtanworten) ab.

Der von ihm schon beim ersten Treffen versprochene Kontakt zur estnischen „Universität für Lebenswissenschaften“ ist übrigens, trotz mehrerer Anläufe, nie zustande gekommen.

Lettland

Da ich keine Ansprechpartner in Lettland habe, bahnte ich einen Kontakt über eine vertrauenswürdige Institution für demokratisch Gesinnte russisch Sprechende in den baltischen Ländern mit Netzwerken in Russland an.

MeineÜberlegung war, dass auf diesem Wege eine Diskussion zum Komplex „Bürgerliches Genossenschaftswesen“ in Gang gesetzt werden könnte, die sich an alle Bürger Lettlands, sowie der beiden anderen baltischen Länder, gleich welcher ethnischen Zuordnung, wendet und außerdem an demokratisch Gesinnte in Russland.

Kurz darauf gab es eine erste Rückmeldung. Historiker an der Lettischen Universität in Riga bekundeten Interesse.

Ich bat um Namen und Kontakt-Daten, um direkte Verbindung zu ihnen aufnehmen zu können. Daraufhin wurde ich aber gebeten, mich zunächst beim „Verband der lettischen land- und forstwirtschaftlichen Genossenschaften LLKA“ vorzustellen.

Ich kam der Aufforderung sofort nach, stellte LLKA  mich und meine Arbeit vor, erwähnte dabei auch meine Fehlschläge in Estland, regte ein Treffen in Riga, gemeinsammit den Historikern, an und bat um baldigen Bescheid.

Bis heute hat sich aber keiner der erwähnten Angesprochenen geäußert. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass sich in Lettland das wiederholt, was ich bereits in Estland erfahren habe, nämlich dass zwar meine Aufzeichnungen willkommen sind, dass man aber vor einem darauf aufbauenden Engagement zurückschreckt.

Ich vermute, dass bei LLKA (ähnlich wie wohl auch in Estland) gewichtige Kolchos-Nachfolger-Unternehmungen den Ton angeben, die keinesfalls EU-Fördergelder mit Kleinbauern (im Rahmen der neuen EU-Agrar-Politik oder auf Grundlage des EU-Corona-Wiederaufbau-Programms) teilen und sich nicht (genossenschaftlich oder auf andere Weise) „ins Visier nehmen“ lassen wollen.

Litauen

Zu Litauen habe ich seit einem kurzen Besuch (im Jahre 1999) beim – damals neuen – „Verband der litauischen Genossenschaften“ (in Kaunas) keine Verbindung.

(Ich war für eine Recherche in den drei baltischen Ländern zur Kreditversorgung kleiner und mittlerer Unternehmen im Baltikum unterwegs.)

Meine litauischen Gesprächspartner informierten mich, dass sie weltweit nach Vorbildern für genossenschaftliche Regelwerke suchten.

Ich hatte bei der Vorbereitung auf den Litauen-Besuch aufschlußreiche Literatur über die, für die damalige Zeit europaweit hervorragenden,jüdischen Genossenschaften in diesem Land, entdeckt.

Diese Quellen bezeugten, dass alles, was noch heute überall in Westeuropa gängige Praxis ist, insbesondere die Verbandsprüfung  und ihre Verbindung mit dem Staat, dort (bis zum Hitler-Stalin-Pakt) vorhanden war.

Unter Bezug darauf fragte ich, warum man noch nicht dieses gut dokumentierte Erbe genutzt habe.

Daraufhin wurde mir brüsk entgegnet, man sei doch froh, diese Leute los zu sein und benötige deren Erbe nicht.

Meine Reaktion auf diese schlimme Einlassung konnte nur der Abbruch des Kontaktes sein.

Ich halte es aber dessenungeachtet für angezeigt, bei der Wiederherstellung des baltischen Genossenschaftswesens dieses noch heute sehr bedeutende Erbe der Wirtschaftskultur auszuwerten, nicht nur im Interesse Litauens, sondern zum Nutzen aller baltischen Reform-Kandidaten.

AUFBAU EU-KONFORMER GENOSSENSCHAFTEN IM BALTIKUM

Ausgangslage

Der Erfolg der EU-Aktivitäten hängt davon ab, dass die Zielgruppen, an die sich die beiden EU-Programme richten, über Organisationen verfügen, welche deren Interessen dienen und von diesen gesteuert werden.

Das sind dort, wo Genossenschaften existieren, wie etwa in Westeuropa, zuallererst und selbsverständlich, diese.

Da auch drei Jahrzehnte nach der „Wende“ das bürgerliche Genossenschaftswesen in den „neuen“ baltischen EU-Ländern nirgends Fuß gefasst hat, gilt diese „Selbstverständlichkeit“ dort (noch) nicht.

Im Baltikum kämpfen kleine und mittlere Selbständige in Stadt und Land immer noch vereinzelt und damit ungeschützt um Behauptung in der rauhen Konkurrenzwirtschaft.

Diese Lücke im Wirtschaftsgefüge benachteiligt besonders die – schon gegenwärtig schwer bedrängten und nun zusätzlich durch die Corona-Krise völlig ins Hintertreffen geratenden – ländlichen Familienbetriebe, obgleich diese den Anliegen der (aktuellen) EU-Agrar-Reform näher stehen, als etwa die Gross-Landwirtschaft.

(Um die Jahrtausendwende wurden in Estland, Lettland und Litauen Gesetze für wirtschaftliche Assoziationen in der Land- und Forstwirtschaft verabschiedet, die als „Genossenschaften“ etikettiert wurden.

In Estland ist inzwischen diese sektorale Einengung gefallen und damit auch die Etikette. Sie wurde durch den neutralen Begriff  „commercial associations“ ersetzt.)

Angeregt wurden meine (anschließend spezifizierten) „Anstöße“ durch die Entwicklung des ländlichen Genossenschaftswesens in Estland zu Beginn seiner (ersten) Selbständigkeit (am Ende der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts):

In  Estland (nach der Auflösung Livlands und Kurlands nach dem Ersten Weltkrieg um die östliche Hälfte Livlands angereichert) fand die erste baltische Agrarreform statt.

(Lettland – aus Kurland und dem westlichen Teil Livlands hervorgegangen – folgte damit etwa ein Jahr später.

Eine Agrarreform gab es in Litauen noch später, nämlich erst 1922, in Polen sogar erst 1925.)

Die estnischen Bauern mit ihrem meist geringfügigen Landbesitz (durchschnittlich etwa 10 ha) erhielten zwar das (unentgeltliche und vererbliche) Recht auf Nutzung ihres (vormalig vom Gutsherrn gepachteten) Landes. Sie wurden aber nicht Eigentümer.

Das Land blieb also (wie es schon, zumindest formell, in der russischen Zeit war, als die Angehörigen der „Landstände“ vom Souverän „belehnt“ wurden) Staatseigentum.

Den Bauern wurde zwar ermöglicht, ihr Wirtschaftsland dem Staat zu einem niedrigen Preis abzukaufen.

Doch kaum einer war in der Lage, dafür das nötige Geld aufzubringen.

Ein Beleihen des Landes, etwa zur Darlehens-Sicherung, blieb den Bauern versperrt.

Die estnische Regierung dekretierte damals zur Linderung der bäuerlichen Not, dass staatliche Fördergelder für die Landwirtschaft über Genossenschaften zu leiten seien (für deren Entstehen bis dahin im ländlichen Baltikum die gesellschaftliche und wirtschaftliche Basis fehlte).

(Anmerkung: Städtische Genossenschaften waren schon schon in der Zarenzeit überall im Baltikum verbreitet.)

Gleichzeitig wurde das Instrument der Sicherungs-Übereignung (für die kreditfinanzierte Anschaffung von Wirtschaftsgerät) eingeführt.

In kurzer Zeit entstanden daraufhin überall in Estland ländliche Genossenschaften, vor allem Spar- und Darlehenskassen.

Die potenteren unter ihnen erhielten bald Bank-Zulassungen.

Kleinere ohne Zulassung verbündeten sich mit – ländlichen oder städtischen – Genossenschaftsbanken mit Lizenz.

Die Dichte des estnischen Genossenschafts-Netzes war gegen Ende der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts europaweit herausragend.

(Die estnischen Genossenschaften gingen, wie auch diejenigen in den beiden anderen baltischen Staaten, gleich zu Beginn der ersten Sowjetherrschaft unter.) Es gab während der Zwischenkriegszeit in Estland (aber auch in Lettland und Litauen), ein dem (damaligen) deutschen vergleichbares genossenschaftlichesVerbandsprüfungswesen, inbegriffen dessen staatlich konzessionierte Rechts-Aufsicht, und zudemeine Sonder-Ausbildung zum Verbandsprüfer.

(In Lettland gab es aufgrund der dort anders verlaufenen Landreform – die Bauern wurden dort sofort Grundeigentümer – keinen besonderen Anreiz für ländliche Genossenschaften, weshalb deren Gesamtzahl, im Vergleich zu Estland, aber auch zu Litauen, dort allerdings aus anderen Gründen als in Lettland, weniger beeindruckend blieb.)

EU-spezifische Aspekte

Die Grundziele der gleich nach der „Wende“ für den Osten entwickelten Wiederaufbauhilfen, nämlich „Kohäsion“ und „Konvergenz“ mit dem Westen, entwickeln sich zunehmend in eine entgegengesetzte Richtung.

„Inkohärenz“ und „Divergenz“ dehnen sich – geradezu beängstigend – aus.

(Alarmierendes in diesem Sinne zeigt sich auch in  anderen „neuen“ EU-Ländern.)

Auch kleine EU-Ländermit einer schlingernden Gesellschaftsstruktur, wie die hierins Licht gerückten baltischen, sind  durchaus in der Lage, das Gesamtgefüge der EU ins Schwanken zu bringen, vor allem wenn in diesen Ländern die Mittelständler zugrunde gehen.

Die Genossenschaftler in den „alten“ EU-Ländern dürfen diese Entwicklung nicht einfach hinnehmen.

Vielmehr sind sie schon zu ihrem eigenen Schutz gehalten, sichmitdem Wiederaufbau des Genossenschaftswesens im Osten (solidarisch) einzumischen.

Denn wer das Genosssenschaftswesen abdrängt, erodiert damit (vielleicht unbewußt, dennoch aber effektiv) auch die Akzeptanz der Demokratie (in diesem Falle in der Frm der „Wirtschaftsdemokratie“).

Derzeit wird die  Abkehr der staatlichen, aber auch der wirtschaftlichen Autoritäten von den (berechtigten) Anliegen der kleineren, insbesondere der ländlichen Familienbetriebe – der originären Zielgruppe von Genossenschaften – immer bedrohlicher.

Favoriten der Machthaber im Baltikum sind derzeit Grossagrarier, die riesige, ehemalige staatliche Kollektive – in aller Regel entgeltfrei – bewirtschaften, wofür sie aber den Löwenanteil an den üppigen EU-Flächenprämien an sich ziehen.

Damit dies (möglichst ohne wesentliche Abstriche) weiterhin so bleibt, werden diese auch ihre jetzt schon starke Lobby-Arbeit (den neuen EU-Linien zum Trotz) nicht nur aufrechterhalten, sonderneher noch ausbauen.

Die bereits heute schon arg benachteiligten kleinen bäuerlichen Betriebe werden ohne ein genossenschaftliches Gegengewichtschon bald vollständig vernichtet sein (was u.a. dem in- und ausländischen „land grabbing“ Tür und Tor öffnen würde).

Deshalb sollten Reformanstrengungen im baltischen Genossenschaftswesen gezielt und zu allererst bei den ländlichen Famlienbetrieben ansetzen.

Grundkonzept für ein Wiederaufbau-Programm

Die Fördermittel aus den zukünftigen EU-Agrarfonds für den (ökologischen) Umbau der Landwirtschaft sollten grundsätzlich über Genossenschaften (selbstverständlich über solche mit Verbandsprüfung) fließen.

Dem Abfließen staatlicher Fördermittel in „dunkle Kanäle“ würde damit wirksam vorgebeugt.

Dennoch auftretende Unregelmäßigkeiten könnten mit Aussicht auf Erfolg sanktioniert und behoben werden.

Auch die Verteilung und Verwaltung der Mittel im Rahmen des „EU-Corona-Wiederaufbau-Programms“ könnte durchaus ähnlich strukturiert werden. Die Bindung der Mittelvergabe an Genossenschaften müßte in diesem Fall allerdings lockerer gestaltet werden, als bei der Umsetzung von Förderungen aufgrund der neuen „EU-Agrar-Politik“.

Die baltischen Staaten sollten (unverzüglich) angespornt werden, sich, nicht zuletzt wegen des Elementes Verbandsprüfung, für beide Modalitäten einzusetzen.

Dort, wo die Begünstigten aus den EU-Fördervorhaben nicht zu einer genossenschaftlichen Geschäfts-Verbindung bereit sind, wäre es dennoch möglich, die Einbindung in das Verbandsprüfungssystem dadurch zustande zu bringen, dass man Genossenschaften als Vergabe-Treuhänder einsetzt.

(Die Staatsorgane erhielten so zugleich die Möglichkeit, Erkenntnisse aus der Verbandsprüfung für ihre eigenen Aufsichts-Obliegenheiten zu nutzen.)

Die Genossenschaftler im Westen sollten recht bald „Flagge zeigen“ und „Andockstellen“ einrichten (zunächst etwa durch IT-Auftritte und das Anwerben von Mitwirkenden in den baltischen Ländern selbst, aber auch im Westen.

Neue Mitstreiter müßten – natürlich genossenschaftlich – aus- und fortgebildet werden.

Baltische Kandidaten könnten in relativ kurzer Frist identifiziert werden, wenn zugleich Orientierungshilfen und „back-stopping“ angeboten würden, was, wie ich meine, relativ unaufwendig und rasch zu realisieren wäre.

Die „Normalbürger“ im Baltikum, das heisst diejenigen mit mittleren und kleineren Einkommen, die meist als kleine Selbständige „ihr Brot verdienen“, würden die Wiederkehrwirtschaftlicher Selbsthilfe willkommen heißen.

Sie könnten auch dafür gewonnen werden, auf die – für das Aufbauwerk unentbehrlichen – politischen Kräfte in diesem Sinne einzuwirken.

Es kann außerdem erwartet werden, dass auf diese Weise genossenschaftliche Initiativen ingang kommen, zumal wenn darauf hingewiesen wird, dass es schon früher in ihren Heimatländern (den heutigen Anforderungen prinzipiell immer noch genügende) Alternativen zum Wirtschaften mit dem Haupt-Ziel des Gewinn-Maximierens gab.

(Die positive Rolle der Genossenschaften beim Wiederaufbau Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine werbewirksame Referenz.

Frühere, aber auch gegenwärtige Fehlentwicklungen dürfen dabei aber nicht unterschlagen werden, um glaubwürdig zu sein.)

Ich interpretiere das weiter oben berichtete Nicht-Antworten der in Estland und Lettland Angesprochenen als „beredtes Schweigen“ und mache mir dazu die anschließend skizzierten Gedanken:

Nutzanwendungen aus den Erfahrungen in Estland, Lettland und Litauen

Das Nichtbeantworten meiner Anregungen beruht wohl auf dem Bestreben, das, was die heute Mächtigen in den Jahren nach der „Wende“ an Vermögenswerten an sich ziehen konnten, zu bewahren und zugleich zu verhindern, dass EU-Hilfen anderen als ihnen zugute kommen.

Die Interessenten an der Bewahrung des „status quo“ wollen eine für sie gefährlicheDiskussion erst gar nicht anlaufen lassen.

Hieraus ergibt sich aber andererseits, dass die Sache – von ihnen ganz richtig erkannt –  brandaktuell ist.

Ich setze mich dafür ein, dass das von mir Vorgeschlagene, möglichst mit der Hilfe von Personen, die aber frei von Interessen-Bindungen sein müssen,  beherzt  und unverzüglich angegangen wird.

Unabhängigkeit ist vonnöten, weil anderenfalls mit der Aufbauhilfe westliche Verirrungen in den Osten transferiert und dort implantiert werden könnten.

Durch ein vertrauensvolles, vorwärts schauendes Zusammenwirken zwischen offiziellen und privaten Autoritäten  in der Politik und im Wirtschafts- und Gesellschaftsleben kann den Betroffenen aber wenigstens ein (formales) „Geländer“ für den Aufbau von aussichtsreicher wirtschaftlicher  Selbsthilfe zur Verfügung gestellt wird.

Gerade die baltischen Länder können zu diesem Zweck auf noch heute nutzbare  krisenerprobte Vorbilder aus der Zwischenkriegszeit – die von weit tiefer gehenden Schwierigkeiten als der Corona-Pandemie geprägt war – zurückgreifen.

Für den Einstieg in dieses Wiederaufbau-Programm eignen sich besonders die baltischen Vorkriegs-Genossenschafts-Regelwerke.

Sie sind allesamt wörtliche, nur national „überstempelte“ Übernahmen des russischen Genossenschaftsgesetzes von 1917.

(Die Loslösung der „Ostsee-Provinzen“ aus dem russischen Verband durch die Errichtung von Estland, Lettland und Litauen in der Zeit nach dem  Ersten Weltkrieg bedeutete keine Abkehr vom Genossenschaftswesen unter russischer Herrschaft; das Ererbte wurde vielmehr voll in die Rechtssysteme der neuen Staaten eingebettet und so – in seiner Urform – erhalten.)

Da das erwähnte russische dem heutigen deutschen Genossenschaftsrecht sehr nahe ist, können erforderliche Novellierungen – gleichartig für alle drei baltischen Länder und ohne Hintansetzen der tradierten Regelungen – mit Bezügen zu dem (aktuellen) deutschen System unproblematisch bewerkstelligt werden.

Die neuen Fördervorhaben, wie das EU-Corona-Wiederaufbau-Programm und auch die aus der neuen EU-Agrar-Politik, sprechenhauptsächlich mittelständische Leistungsträger an, was für eine erfolgreiche Mitwirkung bei der Wiederbelebung des Genossenschaftswesens im Osten der EU eine einmalige strategische Chance bietet.

Damit der Werte schaffende Mittelstand seine Leistungskraft voll entfalten kann, benötigt er, neben finanzieller Hilfe, vor allem Unterstützung beim Aufbau eines auf ihn ausgerichteten Genossenschaftssystems.

Nur wenn beides zusammenwirkt, wird es für die baltischen Gemeinwesen – Corona-Krise hin oder her – aufwärts gehen.

Die Genossenschafter im Westen sollten sich unverzüglich partnerschaftlich-professionell in Richtung baltische Länder mit dem Ziel  „Rückkehr zum genossenschaftlichen Erbe“ bewegen.

Ein solches Handeln würde die Mehrheit der baltischen Bürger nicht als „Einmischung“ betrachten.

Im Gegenteil, die Mithilfe wäre sehr willkommen, denn sie brächte Orientierung und Lösungsoptionen, wie die Herausforderungen durch die politisch-ökonomische „Wende“ und zusätzlich die aus der Corona-Krise, bewältigt werden können.

Die Mitwirkung ist nicht nur sachlich geboten. Ich halte insbesondere deutsche und österreichische Genossenschaftler für historisch verpflichtet, sich zu engagieren.

Viele der (dem Nationalsozialismus durchaus zugeneigten) genossenschaftlichen Vorväter haben nämlich – damals im Namen „Grossdeutschlands“ – maßgeblich am physischen und, vor allem am kulturellen Zerstörungswerk während des Zweiten Weltkrieges in Europas Osten mitgewirkt.

Die Verpflichtung zur „Mitwirkung bei der Reparatur des angerichteten Schadens“ haben die heutigen Genossenschaftler im Westen geerbt und bindet sie.